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"Geh mit mir"

 

Reise in die Vergangenheit

Klümmchenbude, Zechenkolonie und Zinkbadewanne

Die Autorin Brigitte Griehl  schickt ihre Protagonistin Birgit auf eine Zeitreise in die Vergangenheit , in der sie noch einmal die Beziehung zu ihrer Mutter durchlebt.

In bildhafter Sprache und dichter Atmosphäre veranschaulicht Brigitte Griehl die schmerzliche, aber auch  ebenso schöne Mutter-Tochter-Beziehung. Sie zieht ihre Leser so in ihren Bann, dass sie sich mit Birgit identifizieren und meinen, nicht als Betrachter über dem Geschehen zu stehen, sondern  es mit allen Sinnen mitzuerleben.

Und all dies ist eingebettet im  Ruhrgebiets-Milieu der turbulenten 50er und 60er Jahre.

 

Brigitte Griehl:

Geh mit mir

            LIThaus edition Berlin, 327 Seiten,             
ISBN 3-939305-25-1
 9,80 Euro 

 

Internetauftritt im  LIThaus-Verlag: http://www.lithaus.de/index.php?id=belletristik

 

Bestellungen über LIThaus-Verlag :  http://www.lithaus.de/shop/

                                                       http://www.amazon.de

 

 

Leseprobe:

 9. Meine Mutter drückte mir Geld in die Hand.
„Kauf einen Liter Milch und ein halbes Pfund Homa70
Margarine.“ Sie flüsterte, als gäbe es noch jemanden
in unserer Wohnung, der sie hören könnte.
Während sie verstohlen auf die geschlossene
Küchentür spähte, schob sie mir die Milchkanne und
das Einkaufsnetz zu. Dann stieß sie mich wortlos an
den Ellenbogen zur Tür hinaus in den Hausflur.
Beschwingt hüpfte ich mit der Milchkanne im Arm
über die Straße zum Milchgeschäft. Ich rümpfte die
Nase. Es roch süßsauer, nach Käse und Milch. Brav
stellte ich mich hinter zwei schnatternde Frauen und
wartete, in Gedanken an mein Homa-Tierchen, das
ich gleich bekommen würde. Bis ich es nicht mehr
erwarten konnte und meinen Kopf zwischen sie
quetschte.
„Du bist noch lange nicht dran!“, schimpfte es aus
dem einen Lodenmantel. „Kein Wunder, dass du dich
nicht benehmen kannst. Das liegt wohl in der
Familie!“, aus dem anderen. Die Frau kannte ich, das
war die geizige Schachtel aus der Kolonie meiner
Großmutter.
„Heute wieder ein Liter?“, fragte Herr Zabel.
„Ja, und ein halbes Pfund Homa-Margarine“,
antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Während er meine Milchkanne unter den Zapfhahn
schob, den Hebel mit tuckerndem Geräusch auf- und
abbewegte, drückte ich mich an die Theke, krallte
meine Hände um die Holzkante und wippte auf den
Zehen hoch. „Mach doch schneller, ich will mein
Tierchen!“, rief ich stumm mit sehnsüchtigem Blick
auf den Pappkarton.
Als ich mit einem Satz hochsprang, gab es einen
Ruck. Ich zerrte, es ratschte, der Ärmel meines
Blousons gab nach. Meine Augen weiteten sich vor
Entsetzen. „Pass gut auf deinen Blouson auf, er war
teuer“, hörte ich die mahnende Stimme meiner
Mutter, als sie ihn mir stolz zum Geburtstag
geschenkt hatte. Mit zwei Fingern klappte ich die
aufgerissenen Stofffetzen auseinander. Ein langer
Winkelhaken. „Du undankbare Tochter.“
Aber als Herr Zabel mir zuzwinkerte, war mein
Schreck vergessen. Ich ahnte, er würde mich wieder
zappeln lassen, dieser grausame Mensch. So war es
nämlich immer. Bevor er den Homa-Würfel auf die
Theke legte, umklammerte er ihn mit beiden Händen,
um ihn grinsend zu betrachten.
Endlich stand der Pappkarton vor mir, mit einem
Gummiband umwickelt. Am liebsten hätte ich ihn
gepackt. Aber Herr Zabel zupfte wie ein
Gitarrenspieler mit dem Finger an dem Gummiband,
bis es riss und in hohem Bogen auf den Käse
schleuderte. Mach doch endlich!
Aber er klimperte mit den Fingern auf dem
Deckel, während er mich mit einem Augenaufschlag
beäugte. Dann öffnete er den Deckel, Stückchen für
Stückchen. Da lag sie vor mir, die ganze
Herrlichkeit, ein Paradies von Homa-Tierchen! Und
oben drauf thronte ein Reh, das fehlte noch in meiner
Sammlung.
Als ich die Haustür öffnete, drangen Stimmen durch
das Treppenhaus. Je mehr ich mich unserer Wohnung
näherte, desto lauter wurden sie. Neugierig presste
ich mein Ohr an die Tür. Eine tiefe Stimme brüllte.
Meine Mutter schrie. Zwar konnte ich die Worte
nicht verstehen, aber meine Mutter stritt sich mit
einem Mann.
Ohne zu atmen linste ich durchs Schlüsselloch.
Dann klingelte ich. Plötzlich war es still. Minuten
vergingen, bis sich die Tür zaghaft öffnete. Mit
schreckgeweiteten Augen huschte meine Mutter über
die Türschwelle.
„Wer ist da?“, fragte ich.
Anstatt zu antworten, schüttelte sie den Kopf,
presste die Lippen zusammen und nahm mir die
Milchkanne und das Einkaufsnetz ab. „Einen
Augenblick.“ Ihre Stimme bebte.
Ich sah, dass sie zusammenzuckte, als sie einen
Krebsschritt rückwärts in den Korridor machte und
die Tür vor meiner Nase zudrückte.
Wie ein armer Sünder stand ich da und wartete.
Kein Laut drang zu mir, bis auf die schnellen,
dumpfen Schritte meiner Mutter. Ungewissheit
bohrte in mir. Habe ich geträumt? Mit einem Mal
streckte meine Mutter den Arm durch den Türspalt
mit einem Groschen in der Hand. „Kaufe dir
Klümmchen“, flüsterte sie und schloss die Tür
wieder.
Gedankenversunken verließ ich das Haus. Auf dem
Weg zur Bude traf ich Petra. Sie redete auf mich ein,
aber ich hörte sie kaum. Starker Wind bauschte
meinen Rock. Hinter mir klingelte es stürmisch. Und
ehe ich mich versehen konnte, fuhr Kurt mit seinem
neuen roten Fahrrad hämisch grinsend durch eine
Regenpfütze, so dass Wasser in hohen Bögen von
den Reifen in mein Gesicht spritzte. „Warum kannst
du nicht aufpassen, du Blödmann!“, schrie ich ihm
nach.
Kaum erspähte uns Jupp, unser Budenjupp, schob
er die Scheibe zur Seite und fingerte zwischen Hals
und Hemdkragen, der die Haut rot aufgescheuert
hatte. Sein kugelrunder Kopf wackelte auf einem
dicken, kurzen Hals. Mit seinem quer gestreiften
Hemd sah er aus wie ein Clown.
Während er mit dem Daumen an seinen
Hosenträgern schnipste, beugte er sich nach vorne,
zwischen zwei Klümmchengläsern. Sie schwankten
bedrohlich, Liebesperlen quollen heraus, kugelten
auf den Bürgersteig. Jupp stürmte aus seiner Bude,
balancierte auf dem rutschigen Meer von
Klümmchen, rutschte aus, fiel bäuchlings hin, japste,
Liebesperlen sprudelten aus seinem Mund.
Und in dem Augenblick, als Jupp fragte: „Welche
Klümmchen wollt ihr heute?“, schwebten die
Liebesperlen wieder zurück in die Gläser.
„Ich möchte zwei Zigaretten!“, sagte Petra.
„Na, na, du rauchst doch wohl noch nicht?”, grinste
Jupp mit hochgezogener Oberlippe. Aber eigentlich
grinste nicht er, sondern sein exaktes Gebiss mit
einer tiefroten Plastikfassung. Meine Oma hatte auch
so eins.
„Für meinen Papa“, erklärte Petra. „Und für deine
Mama“, fügte ich stumm hinzu. Als ich nämlich am
letzten Sonntagmorgen Petra besuchte, lagen ihre
Mutter und ihr Vater im Bett. Sie rauchten. Das gab
es bei meinen Eltern nicht, niemals. Mein Vater
rauchte jeden Sonntagnachmittag, aber nur eine
Zigarre, natürlich nicht im Bett. Und jetzt kichert
Jupp auch noch. Woher weiß der denn, was Petras
Eltern im Bett treiben?
Als sich Jupp zu den Zigarettenschachteln
umdrehte, musste ich lachen, im Stillen natürlich. Es
sah aus, als trüge er ein kreisrundes, weißes
Käppchen auf seinen schwarzen Haaren. Aber das
war gar kein Käppchen, da fehlten alle Haare.
Knisternd wickelte Jupp zwei Zigaretten in
hauchdünnes Papier ein. „Pass auf, dass sie nicht
einknicken!“, mahnte er in das Rattern eines blauen
Dreiradautos hinein, auf dem Holzfässer bedrohlich
schwankten.
Endlich durfte ich meine Klümmchen kaufen. Die
Auswahl fiel mir schwer. Klümmchengläser, gefüllt
mit Gummibärchen, Lakritzschnecken, Nappas in
Silberpapier und Salinos. Das Wasser lief mir im
Mund zusammen.
„Salinos für zehn Pfennig!“
Jupps dicker Wurstarm tauchte so tief in das Glas,
dass er fast darin stecken blieb. Ich sah ihn vor mir
mit seiner Hand in dem Bonbonglas, bis in alle
Ewigkeit. Dann wäre es aus, keine Zigaretten mehr
vom dicken Jupp, keine Lakritz, kein Kaugummi.
Endlich das vertraute Geräusch. Er rührte
geräuschvoll in den Salinos, bevor er sie in eine
kleine Papiertüte plumpsen ließ. „Eins, zwei, drei ...
zehn. Und eins extra, für dich!“
Dann verharrte er. „Ach, und noch zwei für deine
Mutter. Wenn sie Zigaretten kauft, springen immer
ein paar Salinos ab.“
Ich stutzte. Meine Mutter? Zigaretten?
Plötzlich klickte es in mir. Als ich in der letzten
Woche früher Schulschluss hatte, roch ich schon vor
der Wohnungstür Zigarettenqualm. Es dauerte länger
als sonst, bis meine Mutter öffnete. Mit großen
Augen und einem eigenartigen Lächeln begrüßte sie
mich.
„Ist Vati schon da?“, fragte ich.
„Nein, wie kommst du denn darauf?“, antwortete
sie, stürzte zum weit geöffneten Fensterflügel und
schloss ihn.
„Es riecht aber nach Zigarettenqualm!“
„Ach, das bildest du dir nur ein!“, sagte sie, immer
noch mit demselben eigenartigen Lächeln. Und als
ich die Nase rümpfte und nachhakte: „Es riecht aber
hier nach Zigaretten“, griff sie an ihren Hals,
schluckte feste, nahm den Besen aus der Ecke und
fegte mit ruckartigen Bewegungen über das
Linoleum, obwohl ich keinen Krümel sah, nicht
einen einzigen.
Als ich am Nachmittag eine Bananenschale in den
Mülleimer warf, lag oben auf eine halb aufgerauchte
Zigarette und zwischen Papierfetzen ragte die Spitze
einer zweiten Zigarette heraus. Ebenfalls halb
aufgeraucht.

 


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